Frühstück mit Elefanten

"Der Bestseller von Gesa Neitzel"

Alles hinschmeißen, nach Afrika gehen und sich zur Rangerin ausbilden lassen – ist das nun unglaublich mutig oder die Schnapsidee von jemandem, der vor dem Leben davonläuft?

 

Noch während Gesa Neitzel darüber grübelt, landet sie kopfüber in ihrem afrikanischen Abenteuer. Sie lernt alles über Elefanten und Gelbschnabeltokos, lernt Spurenlesen und Sternenkunde und muss sich nicht nur einigen Prüfungen, sondern auch ihren Ängsten stellen. Sie erzählt von atemberaubenden Begegnungen mit Löwen, vom Barfusslaufen durch die Savanne, von langen Nächten unterm Sternenhimmel – und von einem Leben, das endlich richtig beginnt.

 

Frühstück mit Elefanten

Auszug aus dem Buch von Gesa Neitzel:

“Meine Geschichte beginnt in Berlin. In der Stadt, die ich seit zehn Jahren mein Zuhause nenne. Ich sitze in der S-Bahn, auf dem Weg zur Arbeit. Tatsächlich bin ich bereits zwei Stationen zu weit gefahren, ohne es zu bemerken. Das passiert mir öfter. Die Kopfhörer in den Ohren und einen verschwommenen Ausdruck in den Augen, schlürfe ich jeden Morgen gegen halb 10 meinen und krümele meine Jacke mit Blätterteigsplittern vom Croissant voll, während ich von einem Leben träume, in dem es keine Station gibt, an der ich wieder und wieder aussteigen muss.

Ich wollte schon immer weg. Raus. Frei sein. Das steckt so in mir drin. Also bin ich gleich nach dem Abi von zu Hause weg. Allerdings wusste ich mit meinen 19 Jahren auch nicht so recht, wohin mit mir. Darum ging es nach Berlin. Von der Kleinstadt in die Großstadt – das war zumindest eine Veränderung, die sich anhand von Einwohnerzahlen belegen ließ. Über Umwege bin ich zu einem Leben gekommen, das funktioniert. Ich arbeite als Redakteurin beim Fernsehen – ein Job, der bestimmt nicht langweilig ist. Ich habe meine eigene kleine Wohnung und mache einmal im Jahr eine Reise. Über meine Ausflüge in die weite Welt schreibe ich einen Reiseblog. Ich habe eine Handvoll guter Freunde und einen Park vor der Tür. Ich könnte zufrieden sein. Nein, ich sollte zufrieden sein. Nicht zufrieden zu sein, ist sogar ziemlich unfair. Dem Leben, den anderen und mir selbst gegenüber. Ich sollte jeden Tag genießen und dankbar sein und ich sollte nicht so viel träumen. Aber ich kann’s einfach nicht lassen.

Als Kind hatte ich mir das anders vorgestellt, das Leben. Es war für mich ein großes Abenteuer, das Leben. Es war ein leeres Malbuch, das mit Farben gefüllt werden wollte, das Leben. Es war nicht das, was es heute ist, das Leben.

Mir fehlt etwas. Das ist normal, höre ich von allen Seiten, wenn ich es laut ausspreche. Meine Generation schwimmt in einem „Mehr“, kann nicht zufrieden sein und fragt sich stets, was hinter der nächsten Straßenecke wartet. Sicher ist an diesen Behauptungen was dran. Sicher ist das so. Die Welt steht uns offen und sich für das eine Ding zu entscheiden, scheint unmöglich, im reißenden Strom der Möglichkeiten. Ich versuche, mich damit abzufinden. Dass ich etwas Anderes will, ist nur eine Illusion; dass ich unzufrieden bin, mein Schicksal als Teil der „Generation Y“. Trotzdem kann ich es nicht lassen. Trotzdem schweift mein Blick immer wieder in die Ferne, muss ich immer wieder raus. Auf der Suche nach einem Ort, an dem ich stillstehen kann, ohne stehen zu bleiben.

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An der nächsten Station steige ich aus und die Treppen hinunter auf die andere Seite, warte am Bahnsteig auf den Zug zurück in den Alltag. Obwohl ich nur zwei Stationen fahren muss, setze ich mich ans Fenster und beobachte die Stadt, die vorbeizieht. Und die Farben, die verschwimmen. Und die Straßen, die undeutlich werden. Und ich frage mich, wann ich eigentlich das letzte Mal so richtig zufrieden war. Eigentlich ist das gar nicht so lange her. Drei Wochen, um genau zu sein. Vor drei Wochen war ich in Südafrika und saß auf dem offenen Träger eines Pick-Ups, der über holprige Straßen ins Nirgendwo fuhr. In der Ferne brüllte eine Löwin, schrien Affen, spielten die Zikaden ein Lied. Nur die Sterne über mir und Fahrtwind in meinen Haaren.

Hier, in der Gegenwart, tut plötzlich etwas weh. Ein Stechen in der Brust, das ich nicht kenne. Ich versuche mir einzureden, dass das normal ist; dass es jedem nach einem Urlaub so geht. Und beruhige mich. Ja genau, bleib ruhig. Natürlich ist es schwer, nach drei Monaten auf Reisen wieder im Alltag anzukommen. Kennst du doch schon, warst doch schon öfter weg von zu Haus. Und dennoch. Dieses Mal komme ich damit nicht klar. Dieses Mal ist etwas anders. Während ich noch versuche, herauszufinden, was es ist, stelle ich fest, dass ich schon wieder meine Station verpasst habe.

Ich glaube, eine Reise beginnt nie erst mit dem Tag des Abflugs. Sie beginnt bereits mit der Entscheidung zu gehen. Eine ganze Woche vergeht, ohne dass ich an Afrika denke. Jeder kommende Morgen sieht so aus wie der davor. Ich bin zurück im Job, zurück im Alltag; habe eingekauft, die Wäsche gewaschen und in den Schrank gehängt und meinen Rucksack obendrauf verstaut. Bis zum nächsten Mal, alter Freund.

Bei der Arbeit bin ich mit Castings und Recherchen abgelenkt. Der Tag, an dem mir aber dann doch der Kragen platzt, ist ein Montag. Natürlich ist es ein Montag. Montage bieten die besten Voraussetzungen für geplatzte Kragen. Mein Wecker klingelt um sieben Uhr. Ich versuche gerade ein wenig früher aufzustehen, damit ich vor der Arbeit noch Zeit für mich habe. Aber es gelingt mir nicht. Nie. Ich drücke alle zehn Minuten die Schlummertaste und stehe nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf mit schlechter Laune auf. Die Wohnung ist kalt. Ich stolpere ins Bad, stehe länger als nötig unter der heißen Dusche und suche im Dampf nach einem Gedanken, der mir Zuversicht für den Tag gibt. Mir fällt keiner ein, außer dieser hier: Feierabend. Ich überlege, was ich denn anders machen würde, wenn ich könnte.

So viel weiß ich: Ich will raus aus der Stadt. Ich will Holz hacken und Lagerfeuer machen und Stockbrot über den Flammen rösten. Ich will mich auf einfache Freuden und naturbewusste Lebensweisen besinnen und ich will nicht länger in dieser Blase leben, in der Unzufriedenheit mit Konsum betäubt wird. Ich will durch Wälder wandern und wilden Tieren begegnen und Steinchen übers Wasser springen lassen. Ich will mit der Sonne aufstehen und der Welt zuschauen, wie sie jeden Morgen aufs Neue erwacht. Ich will wieder Kind sein und mich über die Welt wundern. Wir leben auf einem blauen Planeten, der um einen brennenden Ball kreist und nachts leuchtet der Mond, der unsere Meere bewegt … Wenn das nicht schon ein Wunder ist, was dann? Nur kriege ich nichts mit von diesem Wunder. Ich bin ein ganz natürlicher Teil davon und habe es völlig vergessen. Ich bin zu digital, zu pixelig geworden.

Ich will wieder auf dem Boden ankommen. Mein Leben verläuft losgelöst von der Erde, auf der ich stehe. Ich könnte hier in Berlin wochenlang in meiner Wohnung überleben, ohne jemals vor die Tür gehen zu müssen! Ich halte mich die meiste Zeit in geschlossenen Räumen auf und ich weiß nicht, wo die Lebensmittel herkommen, die ich täglich zu mir nehme. Wenn ich Bäume sehe, dann nur solche, die von Menschenhand gepflanzt wurden. Bewegung ist Fitness oder Sport, nicht ein notwendiger Bestandteil meiner Tätigkeiten. Mit meinen Nachbarn trete ich nur dann in Kontakt, wenn sie zu laut sind und außer Tauben am Bahnhof und Hunden an Leinen sehe ich so gut wie nie ein lebendes Tier, geschweige denn ein wildes. Ich benutze meine Hände nicht. Meine Beine sind faul geworden; meine Sinne abgestumpft. Ich fühle mich wie ein taubes Gliedmaß, das zwar noch an einem lebendigen Körper hängt, dort aber keinerlei Zweck mehr erfüllt. Ich kriege von nichts genug; aber ich habe von allem zu viel.

Ich muss raus. Darum will ich etwas Neues wagen. Eigentlich weiß ich auch schon was. Ich habe mich bis jetzt nur noch nicht getraut, den Gedanken zuzulassen. Er hat mich im Urlaub gepackt und lässt mich seitdem einfach nicht mehr los: Ich will nach Afrika gehen und Rangerin werden. Ich will lernen, mit wilden Tieren zu leben und mich wieder an meine Instinkte erinnern. Ich will herausfinden, woraus ich gemacht bin. Aber ich traue mich nicht. Sowas macht man doch nicht, einfach so.

Noch in Afrika erschien mir der Gedanke weniger abwegig. Da war ich von Leuten umgeben, die genau das vorleben und als Ranger Safari-Gästen die großen Wildtiere Afrikas zeigen. Zurück in den eigenen vier Wänden klingt diese Idee jetzt aber verrückt. Ich, Rangerin – völlig absurd. Ich gehe nie campen. Ich habe keine Haustiere. Ich ekele mich vor Krabbeltieren. Ich habe kein tiefschürfendes Interesse an Biologie und was ich über Afrika weiß, ließe sich wohl in einem Aufsatz auf drei Din-A-4 Seiten zusammenfassen. Darf jemand wie ich überhaupt nach Afrika? Oder ist dieses Abenteuer nicht denen vorbehalten, die genau das schon immer wollten? Einer der Lieblingsfilme aus meiner Kindheit ist der Klassiker HATARI. Weiß der Geier wieso, aber ich finde den großartig. Rasante Fahrten durch offenes Gelände, wilde Nashörner und süße Baby-Elefanten. Ein junger Hardy Krüger in Khaki. Ganz großes Kino. Ich erinnere mich auch noch an diesen Jungen aus meiner Schulzeit, in den ich verliebt war und der mit seinem Fahrrad nach Afrika fahren wollte. Er kam bis ins Nachbardorf, wo er einen Platten hatte. Am Abend stand er mit einem Kasten Bier zum Grillen wieder auf der Matte. Näher bin ich Afrika jetzt auch kaum.

Ich halte mir den Fön ins Gesicht und die Luft wärmt meine Haut. Kann die Lösung am Ende so einfach sein? Kann es sein, dass ich bis jetzt einfach nur an den falschen Orten gesucht habe? Afrika … einen größeren Kontrast zu meinem Berliner Leben kann ich mir kaum vorstellen. Vielleicht genau deshalb eine gute Idee.

Meine Haare sind trocken und ich scrolle mich bei Marmeladentoast und Kaffee durch die Facebook-Timeline bis in die Unendlichkeit. Schaue mit der Bahn-App, wann die nächste S-Bahn fährt. Checke Instagram. Dann wieder Facebook, Twitter, Instagram, in der Hoffnung irgendwelche sinnlosen neuen Benachrichtigungen in den letzten sechzig Sekunden erhalten zu haben. Und da ist er schließlich: der Moment, in dem ich es nicht mehr länger ertrage. Ich schleudere mein Handy aufs Sofa, als wäre es virenverseucht und schüttele angewidert den Kopf. Ich muss jetzt los. Die Bahn erwischen. Aber mit der Tür ins Schloss fällt an diesem Morgen auch eine Entscheidung: Ich gehe nach Afrika. Und Berlin bleibt hier.

„Aber alle wollen doch nach Berlin!“

Ich telefoniere mit Mama. Montag ist unser Telefontag. Papa spielt Volleyball, Rieke, meine große Schwester, geht ins Fitnessstudio. Sie hat nicht die braunen Locken, die ich von Mama geerbt habe, und unser Kleidungsstil könnte nicht unterschiedlicher sein, aber wenn wir zusammen durch die Straßen laufen, ist für jeden klar, dass wir Schwestern sind. Beide groß gewachsen, haben wir die gleiche Art zu reden und zu gestikulieren. Seit drei Jahren wohnen wir in zwei identischen Wohnungen in einem versteckten Gartenhaus in Berlin.

Mama und ich werkeln am Herd – sie in ihrer Küche in Hildesheim, ich in meiner. Wir haben beide das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt und schnippeln Gemüse– würde mich nicht wundern, wenn wir sogar das gleiche kochen. Unsere Gespräche drehen sich seit Jahren immer wieder um dasselbe Thema: Berlin. Oder eben nicht. Mama erinnert mich während dieser Telefonate an Rainald Grebe, der in seiner Brandenburg-Hymne die Hauptstadt mit einem pompösen „Halleluja, Berlin“ besingt.

„Ja, aber ich nicht. Ich will Berlin nicht mehr – ich muss hier weg. Die Stadt und ich – das funktioniert einfach nicht. Ich hab’s doch lange genug versucht.“

„Aber wo willst du denn sonst hin?“

Jetzt ist der Moment, in dem ich die Bombe platzen lassen muss. Das weiß ich. Aber ich kann nicht. Ich bringe es nicht über die Lippen. Vielleicht weil ich selbst finde, dass das, was ich zu sagen habe, ein wenig lächerlich klingt. Statt den Mund aufzumachen, lasse ich darum die Stille an meinem Ende der Leitung Bände sprechen. Funktioniert immer.

„Was? Willst du jetzt wirklich nach Afrika?“

Die Bombe ist geplatzt.

Dass Mama ganz von allein darauf gekommen ist, kommt nicht von ungefähr. Bereits während der abgehackten Skype-Gespräche aus Südafrika war meine Begeisterung für dieses Land buchstäblich durch den Hörer gehüpft.

„Ich glaube ja“, sage ich.

Jetzt ist Mama diejenige, die still ist – und mir Raum gibt, um meinen neuen Plan in Worte zu fassen. Die Situation ist alles andere als neu für uns. Wenn eine Familie so stark zusammenhält wie unsere, kennt jeder die Macken des anderen – und sieht sie aus weiter Entfernung kommen. Meine Macke ist die Rastlosigkeit. Schon als Kind konnte ich nie lange stillsitzen, musste immer irgendetwas machen, neue Ideen umsetzen, neue Ufer erforschen. Ich bin wie ein Haifisch, der ständig in Bewegung bleiben muss. Stillstand wäre der Tod.

Mama sagt immer noch nichts, darum lege ich jetzt los.

„Also, es gibt in Südafrika die Möglichkeit, mich zur Rangerin ausbilden zu lassen und danach könnte ich zum Beispiel in einer Safari-Lodge arbeiten. Ich glaube, das könnte was für mich sein. Also, ehrlich gesagt, bin ich mir sicher, dass das was für mich ist. Also, genau genommen habe ich mich heute Morgen dazu entschieden. Wenn alles klappt, will ich in einem Jahr los.“

Das alles sprudelt aus mir heraus wie Mineralwasser aus einer Flasche, die vorher ordentlich geschüttelt wurde. Die Worte purzeln durcheinander und tun sich schwer, einen Sinn zu ergeben.

Umso überraschter bin ich darum, als Mama sagt: „Dann mach das.“

„Wirklich?“

„Ja. Mach das. Du musst weg aus Berlin, das weiß ich doch auch. Wir reden schon so lange darüber. Vielleicht musst du einfach mal was ganz Neues versuchen.“

Damit habe ich nicht gerechnet. Ich wollte mit diesem Anruf nicht um Erlaubnis fragen, aber ich kann und will nichts tun, wohinter meine Eltern nicht stehen können. Meine Familie ist mein Kompass. Jeder von uns nimmt eine Himmelsrichtung ein. Und jeder von uns hat Einfluss auf das Leben der drei anderen.

Ich habe schon so lange nach etwas gesucht, das mich glücklich macht, etwas, das mich in den Bann zieht. Für Eltern muss das ein beinah unerträgliches Gefühl sein, wenn das eigene Kind so verloren scheint. Mir selbst kam es aber nie so vor. Ich wusste immer: Wenn ich nicht aufgebe, wenn ich weitersuche, dann werde ich eines Tages das Richtige für mich finden. Meine Eltern haben mir dabei immer den Rücken freigehalten. Egal was ich über die Jahre angestellt habe, sie konnten noch mit jeder Idee irgendwie ihren Frieden machen. Ich hätte also gar nicht überrascht sein dürfen, dass auch Afrika daran nichts ändern würde.

„Und was lernt man da so, als Rangerin?“, fragt Mama.

„Na ja, das ist vielleicht so ein bisschen wie Pfadfinder“, erkläre ich, „man ist den ganzen Tag draußen und lernt alles über die Tiere und die Natur, lernt Spurenlesen und Sternenkunde, aber eben auch wie man Safari-Gäste durch die Wildnis führt – entweder mit einem Geländewagen oder zu Fuß.“

„Zu Fuß!?“

„Keine Sorge, Mama. Zu Fuß werde ich das natürlich nicht machen. Ich bin ja nicht irre.“

Danach wechsele ich lieber das Thema. Ich will ihr keine Angst machen. Aber es ist zu spät.

„Jetzt mache ich mir aber schon Sorgen um dich, du“, sagt Mama am Ende dieses Telefongesprächs, „aber andererseits will ich auch, dass du glücklich wirst. Und es klingt so, als könnte das mit diesem Plan klappen. So und jetzt muss ich Schluss machen. Mein Essen wird kalt.“

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